Liebe Eltern und Großeltern,
liebe Geschwisterkinder,
liebe Fünftklässlerinnen und Fünftklässler,
Meine Rede dauert 10 Minuten. Fast alle Schulleiterreden dauern 10 Minuten.
Ihr bekommt eine Rede, wenn ihr eingeschult werdet, das ist die Einschulungsrede, also heute. Und ihr bekommt eine, wenn ihr wieder ausgeschult werdet. Das ist die Entlassungsrede. Dazwischen gibt es kaum Reden.
Es geht los:
Ihr pflanzt nachher einen Baum, das ist der zweite hier auf dem Hof. Eure Vorgänger, heute die 6. Klasse hatte ebenfalls vor einem Jahr einen gepflanzt. Dieser Baum hat wichtige Eigenschaften, z.B. ist er zäh. Alle dachten schon im Frühjahr, er sei eingegangen, weil immer Kinder daran entlang ratschten, Zweige abbrachen, und er jetzt einfach keine Blätter zeigte. Etwas traurig war die 5. Klasse da schon, die Mädchen eher als die Jungen. Aber dann: Er hat gezeigt, was Zähigkeit ist und ist ausgeschlagen; letztes Jahr sagte ich unseren Kindern der 5. Klasse, dass sie genauso zäh sein werden und alles erreichen. Davon handelte die Rede letztes Jahr.
Aber vorher will ich Euch etwas über das Gymnasium überhaupt erzählen:
Goethe war ein berühmter deutscher Dichter so wie Shakespeare ein berühmter englischer Dichter war. Und von Goethe will ich Euch heute etwas erzählen.
Eltern meinen manchmal Goethe hat nur den Werther geschrieben, da geht es um Liebe, oder das berühmte Drama Faust und so etwas. Aber das stimmt nicht; er hat ganz viele Kinder-Gedichte geschrieben und er hat Kindern beigebracht, wie man sie schreibt. Das ging so:
Einmal in einem Winter, es war unheimlich kalt draußen, und es war ungefähr vor 211 Jahren, da kamen die Kinder aus der Straße, in der Goethe wohnte, zu Goethe nach Hause und wollten sich Gedichte vorlesen lassen. Aber Goethe sagte: „Ihr solltet euch nicht immer Gedichte vorlesen lassen, ihr solltet mal selber welche schreiben, Ihr seid jetzt nicht mehr in der Volksschule (so hieß damals die Grundschule)!“
Und er gab den Kindern Papier und ein paar Wörter; und er ließ sie Wörter auf das Papier schreiben, jeden so, wie er wollte. Und dann sagte Goethe, sie sollten ganz schnell das Papier mit den Wörtern zusammenknüllen und hoch an die Decke werfen und sich darunter stellen, im Kreis. Sie mussten natürlich alle lachen, weil sie so einen Quatsch schon lange nicht gemacht hatten. Es war ein ganz schönes Durcheinander im Zimmer und Goethes Mutter war danach nicht gerade erfreut. Und früher vor 200 Jahren durfte man gar keinen Quatsch machen, das konnte böse Folgen haben.
Goethe sagte, sie sollten die Papiere öffnen und sich die Wörter gegenseitig vorlesen. Und die Kinder nahmen die Papiere auf, aber es waren nicht ihre Wörter, und sie riefen: „Aber das sind doch gar nicht meine Wörter, das sind doch die von einem ganz anderen Kind!“, und Goethe sagte: „Genau so soll es ja sein, eure Sprache ist nur eure Sprache zusammen mit der Sprache der anderen. Macht was draus!“ Und die Kinder hatten Spaß dran und machten was draus, es war ein Riesentohowaboo. Aber Goethe wollte es so, weil die Zeit, man nannte sie damals Sturm und Drang, eben ein bisschen verrückt war, und weil man immer als Künstler irgendetwas Verrücktes machen musste, um irgendwie etwas Besonderes zu sein….
Das machen wir mit euch heute nicht ganz so an unserem bilingualen Gymnasium, aber wir machen vielleicht etwas Ähnliches, wenn ihr wollt. (Poetry Slam heißt das. Das ist lustig. Und vieles andere Lustige machen wir sicher auch…) Da lassen sich Eure Lehrer etwas einfallen…
Warum erzähl ich euch das in meiner Rede?
Weil ihr daran seht, dass das geschriebene und gesprochene Wort, das die Klammer um ein Gymnasium ist, nur zusammen unter Kindern entstehen kann und darum Sinn macht.- für jedes Kind einen anderen. Das drückt Gemeinschaft aus. Die Kinder haben etwas Eigenes gemacht, nichts was Eltern und Lehrer oder Goethe vorgaben. Darum macht es Kinder unabhängig von Erwachsenen. Es macht sie selbstständig. Und dazu ist Schule ja da.
Was also werdet ihr an unserem bilingualen Gymnasium KIBS lernen?
Ihr werdet lernen, die in unserer Welt üblichen Verständigungsmittel zu gebrauchen. Das sind die Verständigungsmittel der Sprachen, eurer Muttersprache und unserer Haussprache Englisch, der Zahlensprache der Mathematik, und der elektronischen Sprache, aber auch der Sprache der Bewegung und der Kunst, und auch eine Sprache wie Spanisch.
Ihr werdet lernen, alles, was die Welt für euch bereitstellt, mit Hilfe dieser Sprachen richtig einzuordnen, zu bewerten, anzuwenden und – wenn nötig – zu verändern.
Und ihr werdet lernen, Gesprächssituationen zu gestalten, die so sind, dass ihr zusammen lernen könnt, nicht allein seid und selbständig werdet.
Und trotzdem, liebe Fünftklässlerinnen und Fünftklässler, ist dabei jeder Einzelne von euch für uns etwas ganz Besonderes, weil ja – wie gesagt – auch ein Gymnasium etwas ganz Besonderes ist. Gymnasium kommt nämlich von gymnos und das ist aus einer griechischen Sprache und heißt nackt. Und es kommt von Gymnastik, und das ist auch griechisch, und es heißt Anstrengung. Gymnasium hieß also früher: mit nacktem Körper turnen; im Gymnasium lernte man seinen Körper zu beherrschen und seinen Kopf.
So unterschiedlich gehen Texte mit euch um. So unterschiedlich seid ihr alle ja auch.
Bleibt so verschieden wie ihr alle seid, und wie ihr hier sitzt. Wir Lehrer würden uns sonst alle ganz furchtbar langweilen, und dann würden wir langweiligen Unterricht machen, und das wäre überhaupt nicht gut.
So, jetzt aber Schluss, denn die zehn Minuten sind um.
Liebe Fünftklässlerinnen und Fünftklässler,
wir freuen uns, dass ihr da seid!
Seid ganz herzlich Willlkommen bei uns!
Und seid versichert: Ihr seid für uns, jeder Einzelne von euch: Etwas ganz ganz Besonderes!